Die böhmische Kulturhauptstadt zwischen Tradition und Moderne

Die SdJ – Jugend für Mitteleuropa erkundet Pilsen/Plzeň

Die Metropole Westböhmens ist ja weithin über die Grenzen hinaus bekannt als europäische Kulturhauptstadt anno 2015, als Wiege der böhmischen Motorenproduktion und der Škoda-Werke, sowie für ihren globalen Ruf als heimliche Hauptstadt des Bieres. Folglich also viel zu viel, um es in einer einzigen Städtereise zu erkunden, besonders da die Stadt ja noch einiges mehr zu bieten hat, als die bereits erwähnten Punkte. So verwundert es auch nicht, dass die meisten Teilnehmer der diesjährigen Bildungs- und Kulturreise der Sudetendeutschen Jugend – Jugend für Mitteleuropa nicht zum ersten Mal in Pilsen verweilten.

Weithingehend wird ja das Bier als das stärkste kulturelle Band zwischen Böhmen und Bayern verstanden, geliebt wird es hüben wie drüben. Aber auch wenn man Pilsen und den dort namensgebend erfundene Gerstensaft nach Pilsner Brauart eher angeblich norddeutschem Geschmack entspricht, so war der Erfinder dieser Sorte und erster Braumeister des Pilsner Urquells doch ein Niederbayer, Josef Groll, der als Begründer des globalen Ruhms böhmischer Braukunst gilt. Diese Faszination aber reicht nicht nur über die Gipfel des Böhmer- und Bayerwaldes, sondern um den gesamten Erdball! Der australische Lehrer und Hobbybierbrauer Filip Miller siedelte vom Bier angezogen von Down Under nach Pilsen über und unterrichtete am dortigen Gymnasium Englisch, während er weiterhin seinem Steckenpferd nachging und immer neue Rezepturen ausprobierte. Im Laufe der Zeit hing er seinen Job an den Nagel und startete seinen eigenen Betrieb, die Pivovar Raven, seine eigene Craftbeer-Brauerei mit angeschlossener Gastronomie. Ein ehemaliger Schüler von Miller, Mitglied des SdJ-Partnerverbandes Sojka – spolek mladých, stellte den Kontakt her und somit kamen die Reisenden in den Genuss einer speziellen Führung durch das Allerheiligste, wo eine Vielzahl verschiedenster Biere in überschaubaren Mengen produziert wird.  Der Gegensatz zur riesigen Produktionsstätte des Urquells war enorm. Die Besonderheiten im Geschmack, die Raffinesse des Brauvorgangs  und der internationale Flair der kleinen Privatbrauerei werfen ein wundervoll modernes Licht auf die altehrwürdige Stadt.

Tradition und geschichtlicher Hintergrund spielten natürlich eine gewichtige Rolle, als die Stadt im Rahmen einer historischen Führung erkundet wurde. Der Ausblick vom Turm der St.-Bartholomäus-Kathedrale, die Katakomben der Stadt, Zoo und Dinosaurierpark für die kleinsten Teilnehmer, das historische Rathaus, die Synagoge, die Parkanlagen des Altstadtrings, all dies beindruckte die SdJler sehr. Besonders bemerkenswert auch ist der Grund, warum sich gerade ein orientalisches Kamel im Wappen der westböhmischen Stadt befindet. Diese Begebenheit geht auf die Hussitenkriege zurück, in denen das katholische Pilsen belagert wurde, sich behaupten konnte und schließlich im Januar 1434 bei einem Gegenangriff ein von den Hussiten mitgeführtes Kamel als Trophäe erbeuten konnte. Und gerade dieses Tiersymbol, genauso wie der ebenfalls im Wappen befindliche Hund, kann man an allen Ecken und Enden der Stadt entdecken, so man mit offenen Augen die Schönheiten Pilsens erkundet.

Ein weiterer Aspekt des Kunstsinnes der Stadt wurde anhand des (Innen-)Architekten Adolf Loos erfahren. Dieser lebte und wirkte zu Zeiten der 1. Tschechoslowakischen Republik in Pilsen, wo er für mehrere befreundete Familien den Wohnraum gestaltete. Zwei dieser heute noch zum Großteil im Originalzustand befindlichen Wohnungen wurden besichtigt. Bei der Wohneinrichtung legte Adolf Loos sehr stark Wert auf Funktionalität, obwohl ihm das Motto „Form folgt Funktion“ nicht gerecht wird und viel zu kurz gegriffen wäre. Von ihm stammt auch die These von „Ornament und Verbrechen“. Darin wird argumentiert, dass Funktionalität und Abwesenheit von Ornamenten im Sinne menschlicher Kraftersparnis ein Zeichen hoher Kulturentwicklung seien und dass der moderne Mensch wirkliche Kunst allein im Sinne der Bildenden Kunst erschaffen könne. Ornamentale Verzierungen oder andere besondere künstlerische Gestaltungsversuche an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit. Trotz der Widersprüchlichkeit offenbart seine verzierungsfreie Architektur eine spröde Schönheit. Mit den Worten der engagierten Präsentatorin seines Werkes in einer Wohnung eines von außen unscheinbaren Hauses gesprochen: „Adolf Loos war ein Genie!“.

Wie üblich blieb viel zu wenig Zeit um alle kulturellen und städtebaulichen Leckerbissen der Stadt zu erkunden. Selbst die Reiseteilnehmer die nicht zum ersten Mal in Pilsen waren, zeigten sich begeistert und wollen alsbald zurückkehren, denn dass es noch viel dort zu entdecken gibt, das war allen schnell klar.

Peter Polierer